aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Ein Anarchist aus Selm?

Christel Gewitzsch


Ein Anarchist? Aus Selm? Ein wilder Kerl, der die Ordnung stören und die Herrschaft stürzen will? Da muss man mal genauer hinsehen. „Man“ heißt in diesem Zusammenhang: die Beamten des Berliner Polizei-Präsidiums.

Am 28. Juni 1902 erschien in der Berliner Zeitung „Neues Leben“ folgender Artikel:
Duisburg. Am 18. Juni hatte unser Genosse P. Schauf[1] das zweifelhafte Vergnügen, von der hiesigen Polizei behaussucht zu werden. Ob die Polizei das hiesige honnette Bürgertum oder sich selbst bedroht sah, ist uns unbekannt. Oder ob mit der Kaiserreise den hiesigen Polizeiorganen der Anarchisten-Tatterich überkommen ist, war auch nicht festzustellen. Jedenfalls war das Resultat der Haussuchung ein negatives. Drei Nrn. vom „Neuen Leben“, zwei der „Freiheit“ nahmen die Herren von der „hohen Obrigkeit“ mit, aber eine halbe Flasche reinen, weissen unverfälschten – Dynamit, liessen sie stehen. Tableau.

Der Artikel erregte die Aufmerksamkeit des Berliner Polizei-Präsidiums[2]. In einem mit Geheim! bezeichneten Schreiben wandte sich Berlin an die Polizei-Verwaltung in Duisburg und fragte an, ob dort etwas über die Haussuchung bei dem o.g. Schauf bekannt sei. Ihres Wissen nach wohnte der Schauf, ein als Anarchist bekannter Schuhmacher, in Krefeld. Man möge doch bitte diese Anfrage nach Krefeld weiterleiten, falls Schauf nicht in inzwischen seinen Wohnsitz in Duisburg genommen habe.

Aus Duisburg kam die Bestätigung der in der Zeitung veröffentlichten Hausdurchsuchung bei dem Anarchisten A. Schauff und  Krefeld berichtete nach Berlin, dass Schauff weiterhin in der Stadt wohne, aber in Duisburg in der Werkstatt des Josef Glowsky arbeite. Schauf komme aber jeden Abend nach der Arbeit nach Krefeld zurück. Krefeld hatte wegen dieser Zusammenarbeit in Duisburg um eine Überwachung der beiden ersucht.

In Berlin war der Name Glowsky bisher nicht bekannt gewesen und das Polizei-Präsidium wollte von der Krefelder Polizei-Verwaltung näheres über seine persönlichen Verhältnisse und sein politisches Treiben erfahren. Aus Duisburg war am 29. Juni die Information nach Krefeld gegangen, dass man bei der Hausdurchsuchung die o. g. Zeitungen gefunden habe und Schauf Abonnent dieser Blätter sei, dass er in Duisburg nur einen kleinen Handkoffer bei sich habe, um darin seine Werkzeuge zu transportieren. Über Glowsky konnte nichts gemeldet werden. Er war bisher nicht auffällig geworden, sei allerdings auch nur selten anwesend.

Krefeld meldete am 2. August 1902 nach Berlin:
Der am 29. Juni 1854 zu Selm, Kreis Lüdinghausen geborene Schuhmacher Josef Glowsky ist mit Clara Strickling verheiratet und wohnt Königstraße 43.
Derselbe unterhält in Duisburg eine Schuhmacher-Reparaturwerkstätte, worin er den Anarchisten Peter Schauf als Gesellen beschäftigt.
Glowsky hat sich bei dem letzten Hiersein des Anarchisten Rudolf Lange am 10. November 1901 längere Zeit mit demselben unterhalten und schien denselben zu kennen, außerdem ist der als Anarchist bezeichnete Heinrich Hallauer am 9. Mai d.J. in das Haus Königstraße 43 eingezogen, worin Glowsky schon längere Zeit wohnte.
Trotz sorgfältiger Ueberwachung hat jedoch bis jetzt nicht festgestellt werden können, daß derselbe sich den hiesigen Anarchisten angeschlossen hat oder oder daß er anarchistischen Bestrebungen huldigt.
Sobald etwas Tatsächliches vorliegt werde ich das vorgeschriebene Personalblatt einreichen.


Berlin blieb aufmerksam, verlor aber zwischendurch auch mal den Überblick. Eine kleine Botschaft in der „Freiheit“ vom 4. Oktober ließ das Polizei-Präsidium aufhorchen. Sch. Crefeld. Kopf hoch! Alter Schwede, es wird sich schon machen. Gruß P.L. Mit den Initialen konnte man etwas anfangen, es handelte sich um den als Anarchisten bekannten Paul Lücke. Aber von einem Anarchisten Sch. aus Krefeld wollte man noch nichts gehört haben, bis die Informationen über Wohnort und Arbeitsplatz wieder ausgetauscht waren.

Anfang Dezember 1902 erfragte Berlin den neuesten Stand und wollte wissen, ob der Schuhmacher Josef Glowsky dortseits [Krefeld] oder in Duisburg noch in dem Verdacht steht, Anarchist zu sein. Krefeld meldete, er stehe noch in Verdacht, doch lägen keine neuen Erkenntnisse vor, die den Verdacht bestätigten. Duisburg schickte einen Bericht des Kriminal-Sergeanten Blatzheim vom 12. des Monats. Danach betrieb Glowsky in der Gymnasialstraße 3 ein Schnellschuhsohlereigeschäft, war selbst dort aber nicht aktiv. Er kam nur alle acht bis vierzehn Tage auf ein paar Stunden vorbei, um die dort angefallenen Arbeiten zu regeln. Als Anarchist oder Sozialdemokrat sei er bei diesen Aufenthalten in keiner Weise aufgefallen. Nichtsdestotrotz nahm die Polizeiverwaltung in Krefeld Josef Glowsky aufgrund eines Erlasses des Ministers des Innern vom 28. November 1898 in ihr Verzeichnis der Anarchisten auf. Dem Schreiben legte man sein Personal-Blatt bei, das folgendermaßen aussah:

Personalblatt.
I. Personalien.
Familienname: Glowsky.
Vorname: Josef.
Geburtsort: … Selm, Kreis Lüdinghausen, Preußen.
Geburtsdatum: 29. Juni 1854.
Beruf: Schuhmachermeister.
Religion: Dissident.
Familienstand: … verheiratet, lebt mit der Frau zusammen.
Stamm der Eltern: … Josef Glowsky und Louise, geb. Durst.
[3] Hier ist nicht bekannt, ob dieselben noch leben.
Staatsangehörigkeit: Preußen.
Heimathsort: Crefeld.
Militairverhältnisse: unbekannt.
Letzter Aufenthalt in Deutschland: Crefeld.

II. Signalement.
1. Größe: 1 m 70 cm.
2. Gestalt: stark, knochig.
3. Haare: dunkelblond, etwas grau.
4. Bart: Schnurrbart, struppig.
5. Augenbrauen: dunkelblond.
6. Gesichtsbildung: voll und rund.
7. Gesichtsfarbe: bleich.
8. Augen: grau.
9. Stirn: hoch, bedeckt.
10. Nase: etwas lang.
11. Mund: etwas starke Lippen.
12. Zähne: .
13. Kinn: rund und voll.
14. Sprache: Deutsch.
15. Besonderer Kennzeichen: Senkrechte Narbe auf der Stirn über der Nasenwurzel, schielt etwas.
Kleidung: ----

Am Ende des Personalblattes wurden Angaben über Glowskys bisheriges Verhalten, eventuelle Bestrafungen oder sogar Ausweisungen und andere behördliche Maßnahmen gegen ihn festgehalten. Danach hatte Glowsky im November 1901 an einer angeblichen Gewerkschafts-Versammlung … teilgenommen. Auf dieser war auch der oben schon erwähnte Rudolf Lange aufgetreten. Dann verwies der Bericht auf den bei Glowsky beschäftigten Anarchisten Peter Schauf, auf einen in seinem Haus wohnhaften Verdächtigen namens Madert, auf den Bezug der Zeitschriften „Neues Leben“ und „Freiheit“ und auf seine Bekanntschaft mit einem Mann aus Amsterdam.

Unter demselben Datum kamen auf einem anderen Blatt noch einige Informationen über Madert hinzu. Dieser hatte Anfang 1903 an einer Versammlung in Düsseldorf teilgenommen, die, weil als anarchistisch eingestuft, von der Polizei beendet wurde. Er führte Listen mit Namen von Anarchisten und des Anarchismus verdächtigten Persohnen, er pflegte Kontakte zu weiteren Verdächtigen, verwaltete die Mitglieder der Föderation revolutionärer Arbeiter, vertrieb die Zeitschrift „Freiheit“ und Lose einer nicht näher erklärten Lotterie.

In Berlin wurde Glowsky erst einmal aus der Verdächtigen-Liste gestrichen, doch schloss man nicht aus, diese Entscheidung in Zukunft wieder zurücknehmen zu müssen, je nachdem, was Krefeld über ihn zu melden hatte. Doch nun war bis Mai erst einmal Ruhe. Dann wollte Berlin wissen, ob bei der Beobachtung des Glowsky und Madert neue Erkenntnisse aufgetaucht wären. Krefeld verneinte und setzte die Beobachtung fort.

Im Zusammenhang mit einer Revision der Anarchistenliste in Berlin erkundigte man sich im September 1903, ob die aktenkundigen Verdächtigen aus Krefeld auffällig geworden seien. Fünf Namen standen auf der Krefelder Liste: der Schuhmacher Peter Schauf, der Instrumentenmacher Josef Arnold Schmiers, der Schuhmacher Josef Glowsky (mit dem Vermerk, dass er aus der Berliner Liste gestrichen sei) und der Anstreicher Max Madert. Krefeld hielt alle fünf Männer für Anarchisten, obwohl sie sich in keiner Weise auffällig benommen hatten und erklärte, deren Beobachtung fortsetzten zu wollen.

Die Anfragen aus Berlin kamen nun in langsam länger werdenden Abständen. Glowsky schien wohl wieder in die Liste der Verdächtigen aufgenommen worden zu sein. Krefeld antwortete immer, dass Glowsky Kontakt mit Anarchisten pflege, die besagten Zeitschriften abonniere, sich in der Öffentlichkeit aber bisher sonst nicht bemerkbar gemacht habe und man ihn weiter beobachten werde. Erst im November 1910 änderte sich der Ton. Auf eine erneute Anfrage Berlins antwortete die Polizeiverwaltung in Krefeld nun: Josef Glowsky, Königstrasse Nr. 43, ist im vergangenen Jahre im Verkehr mit den hiesigen Anarchisten nicht mehr gesehen worden. In der Versammlung am 15. und 19. Oktober 1910, welche von den hiesigen Anarchisten einberufen waren, ist er nicht anwesend gewesen. Auch sonst hat derselbe sich in keiner Weise bemerkbar gemacht.

Ein Vierteljahr später fragte Berlin noch einmal an, ob sich bei Glowsky etwas Neues ergeben habe. Wenn nicht, wollte man ihn in der in Berlin geführten Anarchistenliste löschen. Und auch in Krefeld blickte man inzwischen mit anderen Augen auf den so gar nicht wilden Schuhmachermeister. Er habe jetzt ein gut gehendes Geschäft, durchweg bessere Kundschaft und ist ein fleißiger Handwerker. Im Verkehr mit hiesigen Anarchisten ist er seit längerer Zeit nicht mehr gesehen worden. Es ist nicht anzunehmen, dass Glowsky noch anarchistischen Grundsätzen huldigt, er kann daher unbedenklich in der Anarchistenliste gelöscht werden.

Dies geschah und die Akte Glowsky konnte geschlossen werden.

Über seine Bespitzelung hatte Josef Glowsky wahrscheinlich nie etwas erfahren. Zu der Zeit lebte er in Krefeld mit seiner zweiten Frau Clara[4] und drei Töchtern, zwei davon aus erster Ehe. Einer seiner zwei Söhne war in jungen Jahren gestorben, der andere kam tot zur Welt. Seine erste Frau, Ida Henriette Bemfert, starb nach neun Ehejahren schon 1891 im Alter von 32. Nachdem seine Frau Clara mit 50 Jahren verstorben war, zog Glowsky 1920 nach Hamburg zu seinen Töchtern. 1929 veränderte er seinen Wohnsitz nach Gera, die beiden älteren Töchter folgten ihm.

März 2024
______________________________

1. Die Schreibweise variiert in der Akte: Schauf/Schauff.

2. Und alle weiteren Zitate: Landesarchiv Berlin, A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16155 Überwachung des anarchistischen Schuhmachers Josef Glowsky.

 3. Am 1. Januar 1843 meldete Amtmann von Stojentin dem Landrat in Lüdinghausen personelle Veränderungen in der Gemeinde Selm. … Die neue Hebamme, mit vollem Namen Maria Luise Franziska Durst, geboren am 21. Februar 1820 in Münster,  verheiratet mit dem Selmer Polizeidiener Joseph Glowsky, hatte ihre Ausbildung in der Hebammenlehranstalt in Paderborn erhalten. siehe: aktenlage, Sechs Hebammen aus drei Familien, Nr. 2. >  /  Polizeidiener in Selm ab 1871 >

4. Nach Recherchen von Karl Glowsky.

 
Email